Lorchen.

Humoreske von Teo von Torn.
in: „Tägliches Cincinnattier Volksblatt” vom 21.10.1912


Wenn man sich anderthalb Jahre nicht gesehen hat, so sind zwanzig Minuten eine knappe Zeit für die Begrüßung und für den Austausch jener tausendfünfhundert Fragen, die man nach so langer Trennung auf dem Herzen hat.

Hauptmann von Kienitz hatte nicht einmal das Coupé verlassen können, um seinen Bruder zu umarmen. Die aufsässige schwarze Bande in Südwestafrika, gegen die er als Stationschef monatelang gekämpft, hatte ihm die Weichtheile des Oberschenkels und das Knie durchschossen. Die Fleischwunde war gut geheilt, die andere dagegen machte noch eine Nachbehandlung erforderlich, welcher der Hauptmann in einer Berliner Klinik sich unterziehen wollte.

Dorthin war er von Kiel aus unterwegs.

Leutnant Max v. Kienitz hielt seine Hand, als wenn er ihn gar nicht wieder fortlassen wollte. In heller Freude schaute er zu dem von der Tropensonne gebräunten Gesicht des älteren Bruders auf, in dessen Augen — trotz Wunden und Kriegsstrapazen — der alte Schalk zwinkerte.

„Aber Du hättest doch wenigstens einen Tag hier Station machen können, Harry!”

„Mit nichten, mein Junge,” erwiderte der Hauptmann. „Ich muß zunächst wissen, woran ich mit meiner Hinterflosse bin. Es macht mir schon einige Beschwerden, daß ich diesen Bummelzug gewählt habe. Aber ich wollte Dich doch mal anschauen, — und von den besseren Zügen wird Euer Garnisönchen grundsätzlich geschnitten. Wohnst Du nicht auch noch in der Kaserne?”

„Allerdings. Aber da wäre doch Rath geworden. Wir haben ein ganz gutes Hotel am Platze —”

„Daß Du die Näs' in's Gesicht behältst! Ein Hotel habt Ihr auch? Na, laß, Maxe, Sobald ich auskurirt bin, tanze ich an. In sechs Wochen hoffentlich. Dann kannst Du mir ein zweites Loch in's Knie fragen — und ich werde auch das Vergnügen haben, Deine Braut kennen zu lernen.”

„Ganz recht. Uebrigens — Lore wäre furchtbar gern mit zur Bahn gekommen. Aber meine Schwiegermutter meinte — sie ist eine verwittwete Konsistorialräthin, mußt Du wissen, und ein bischen ehtepethete — sie meinte —”

„— daß so eine Stippvisite auf dem Bahnhofe keine Form hätte. Hat sie recht von ihrem Standpunkte. Alle Wetter! Beinahe hätte ich's vergssen. ich habe Dir ja noch eine Lore mitgebracht. Abromeit, wo ist der Papagei?”

Der Khakisoldat eilte heran und meldete:

„Den Poppegai hab ich den Herrn Leitnant sein Bursche schon gegeben, Herr Hauptmann!”

Dabei machte er ein merkwürdig pfiffiges Gesicht, das sich zu einem ganz breiten Grinsen erweiterte, als Max von Kienitz ihm einen harten Thaler in die Hand drückte.. Auf einen Wink des Hauptmanns verzog sich der Ostpreuße, und da eben das Abfahrtszeichen ertönte, turnte er in sein Coupé dritter Klasse — allerdings nicht, ohne noch einen pfifigen Blick auf den großen, grünbunten Vogel zu werfen, den der halbe Bahnhof staunend umringte.

Der Zug setzte sich in Bewegung.

„Adieu, Max. Und halt' mir die Lore gut. Das Vieh ist während der Ueberfahrt durch die Matrosen ein wenig in seiner Erziehung verwahrlost, aber sehr klug und drollig. Adieu — und auf baldiges Wiedersehen!” — —

Leutnant von Kienitz war im Allgemeinen kein Freund von gefiederten oder vierfüßigen Hausgenossen. An sich und in seiner Wohnung peinlich adrett, genirten ihn die mancherlei Unreinlichkeiten und Umstände, welche mit dem Halten von Hausthieren immerhin verbunden sind.

Mit dem Papagei jedoch machte er eine Ausnahme. Er war ein Geschenk seines Bruders und ein Namensvetterwei Gründe, die Herrn von Kienitz veranlaßten, dem bunten Exoten den Himmel auf Erden zu bereiten. Er bekam ein wunderschönes, geräumiges Bauer und die ausgesuchtesten Leckerbissen. Herr von Kienitz hatte extra die betreffenden Kapitel des großen Brehm und noch einige Handbücher durchstudiert, um nur ja nichts zu versäumen, was dem Vogel nützlich oder angenehm sein könnte.

Der Leutnant fand aber überraschend wenig Gegenliebe. Nicht, daß Lore biß oder sich sonst ungebärdig zeigte. Keineswegs. Lore bewahrte eine Haltung, die Würde und Ueberlegenheit ausdrückte — untermischt mit etwas Tücke. Ihr neuer Herr war jedoch nicht genügend zoologisch gebildet, um diese Beimischung zu erkennen. Es machte ihm tausend Spaß, wenn das Thier ihn mit seitlich geneigtem Kopfe aus dem großen, lebhaften Auge neugierig anblinzelte, als wenn es sagen wollte: Was ist denn das für ein Zeitgenosse? Aber er sagte nichts. Er blieb stumm — so hundertfach auch der Leutnant an seine Intelligenz appellirte. Nur wenn dieser den Finger durch das Gitter steckte, um „Köpfchen zu kraulen”, zog sich Lore mit einem mürrisch geschnarrten „na na — na na ” in den äußersten Winkel des Käfigs zurück. War der Vogel unbeobachtet, so machte er mit Vorliebe Looping the Loop an den großen Ringen oder turnte mit den tastend greifenden, fleischigen Klauen und unter Zuhilfenahme des massiven Schnabels am Gestänge umher — wobei er unausgesetzt etwas Unverständliches vor sich hinbrabbelte.Es klang wie „Quark” oder dergleichen.

Leutnant v. Kienitz neigte bereits zu der Annahme, daß sein Bruder sich einen seiner beliebten Scherze gemacht, als er die Klugheit und Mittheilsamkeit des Geschenkes hervorhob. Das Vieh reagirte ja nicht einmal auf seinen Namen — höchstens, daß es höhnisch auflachte und entsetzlich die Augen verdrehte, wenn sein neuer Herr ihm „Loore” und „Loorchen” in den zärtlichsten Registern vorflötete. Gleich darauf hing es wieder kopfunten und brabbelte: „Quark —”.

Leider sollte sich der Leutnant bald überzeugen, daß diese Indifferenz nur eine angenommene war.

Die beiden Zimmer, welche Max v. Kienitz in der Kaserne bewohnte, lagen im Hochparterre. Die Fenster gingen auf den Kasernenhof hinaus. Da Lore bisher sich so reservirt gezeigt, glaubte der Leutnant, den Vogel auch in seiner Abwesenheit am offenen Fenster belassen zu können, damit er frische Luft und auch Sonne bekäme. Im Brehm stand ausdrücklich, daß das solchen Thieren sehr gut thue. Im Brehm stand aber auch, daß eine solche Gutthat die Papageien besonders mobil und gesprächig mache. Und das hatte Herr von Kienitz übersehen.

Auf dem Hofe war mit Rücksicht auf die bevorstehenden Manöver furchtbar geschliffen und gebimst worden. Der Herr Oberst hatte sich zu diesem Geschäft höchstselbst eingefunden. Sein Gaul stuckerte im Backäppelgalopp von einer Seite des Hofes auf die andere, — und wo er hielt, da prasselten Schelte, Strafwachen und ähnliche gute Dinge wie ein Hagelwetter.

„Herr Leutnant von Kienitz! Ist das Ihr Zug? Das soll ein Zug sein?! Ein Cakewalk von angesäuselten Niggern [Beachte die Entstehungszeit: 1912! D.Hrsgb.] ist das — verstehen Sie mich?! Sehen Sie mal den zweiten Kerl da rechts und die beiden — —”

Dem Herrn Oberst blieb plötzlich die Luft weg. Die weitaufgesperrtrn Kinnladen klappten zusammen.

Es hatte Jemand ganz laut und deutlich gerufen:

„Halt den Rand!”

Und ehe er von dem Unerhörten sich erholt, erscholl es noch einmal und mit noch bedeutend mehr Nachdruck:

„Rindskopp! Döskopp! Halt den Rrrrand!”

Der Oberst erblaßte. Noch blasser aber war der Leutnant von Kienitz, als er an den fassungslosen Kommandeur herantrat und meldete:

„Verzeihen der Herr Oberst, — das ist ein Papagei, den mir mein Bruder aus Westafrika mitgebracht hat. Ich werde sofort —”

„Ein Papagei,” bemerkte der Herr Oberst aufathmend, indem er mit den hervortretenden Plötzaugen die nächsten Fenster absuchte. „Richtig — ein Papagei. Der Herr Leutnant von Kienitz belieben, sich in der Kaserne einen zoologischen Garten anzulegen! Ich möchte sehr bitten, Herr Leutnant von Kienitz, daß Sie diese Akquisition wieder abschaffen. Und zwar plötzlich abschaffen. Sollte das binnen vierundzwanzig Stunden nicht geschehen sein, so würde ich Ihnen drei Tage Gelegenheit geben, darüber nachzudenken, daß eine königliche Kaserne kein Vogelhaus ist. Sie haben mich verstanden, Herr Leutnant von Kienitz?”

„Zu Befehl, Herr Oberst!”

Zu Befehl ist leicht gesagt, aber nicht immer leicht gethan.

Am Nachmittag des nämlichen Tages hatte es der Leutnant sich in Hemdsärmeln und Filzparisern bequem gemacht. Betrübt saß er vor dem Bauer und überlegte, wie er die Bitte des Herrn Oberst erfüllen könne, ohne sich des Vogels zu entäußern. Das wäre ihm sehr schwer geworden — namentlich seit er wußte, was das für ein fixer Kerl war. Gebildet betrug er sich ja nicht. Im Gegentheil. Er hatte Ausdrücke am Leibe, die nichts weniger als gewählt waren. Aber er sprach doch nun. Außerdem war er ein Geschenk des Bruders und hieß Lore — — —

Herr von Kienitz war so in Nachdenken versunken, daß er ein Klopfen überhört hatte. Der Papagei augenscheinlich nicht. Er raste wie wahnsinnig an dem Gestänge empor und schrie:

„Herrrein!”

Die Thür öffnete sich. Drei Schreie. Zwei weibliche und ein männlicher.

Die ersteren stammten von Frau Konsistorialrath nebst Tochter, welche dem Schwiegersohne resp. Bräutigam die Ueberraschung und Freude machen wollten, ihn einmal in seinem Junggesellenheim zu besuchen. Den männlichen Schrei hatte der Leutnant ausgestoßen, als er sich mit wildem Sprunge in's Nebenzimmer rettete, um seine dürftige Toilette zu komplettiren.

In der nächsten Minute trat er im Waffenrock wieder ein und begrüßte die Damen. Dieselben konnten jedoch einige Verlegenheit ob der peinlichen Situation nicht recht überwinden. Namentlich war die Frau Konsistorialrath innerlich recht indignirt. Um sich das nicht merken zu lassen, trat sie an den Käfig.

„Ah, da ist ja der Papagei, von dem Sie uns erzählten! Welch ein süßes Viehchen! Einfach süß! Wie schlau er guckt! Lorchen, wie heißt Du? Lorchen? Na, sag' doch mal Lorchen!”

Der Papagei machte einen ganz schiefen Kopf und kraute sich mit der Klaue im Genick. Er schien sich nicht äußern zu wollen. Plötzlich aber räusperte er sich fürchterlich. Es klang genau so, als wenn ein Matrose sich an seinem Stück Priemtabak verschluckt und das heftige Bestreben hätte, es wieder heraufzubringen und auszuspucken.

Die Frau Konsistorialrath prallte entsetzt zurück, worauf Lorchen ein heiseres Lachen ausstieß und in tiefem Brustton erklärte:

„Loooo—ra, Loooorchen ist ein Racker! Ein Rackackackackacker! Loooorchen — hörst Du? Komm, Karlineken, komm, Karlineken, komm —”

Leutnant von Kienitz riß die Tischdecke herunter, um sie dem entsetzlichen Vogel überzuwerfen. Wenn das Biest dieses Lied mit dem ihm von den Schiffsleuten einstudirten Text zu Ende sang, dann war eben Alles zu Ende.

Glücklicherweise schwieg Lorchen, und der Leutnant konnte sich nun mit Ruhe und Sammlung dem anderen Lorchen und deren Mama widmen. Nach einem halbstündigen Besuche schieden die Damen sehr freundlich. Es hatte ihnen sehr nett gefallen. Die Frau Konsistorialrath war sogar so aufgekratzt, daß sie sich auch von dem Papagei verabschiedete, obwohl ihr Schwiegersohn ahnungsvoll davon abgerathen. Und das mit Recht. Denn kaum hatte die alte Dame mit neckischem „Kuckuck” die Decke gelüftet, als der Vogel in tiefem Matrosenbaß jene unfreundliche Aufforderung an sie richtete, welche Götz von Berlichingen dem Feldhauptmann hatte bestellen lassen.

Wortlos scheute die Frau Konsistorialrath zurück und verließ mit energischem Wink an ihre Tochter das Lokal.

Erst als Harry von Kienitz seinen Bruder rehabilitirte, nahm die alte Dame Bann und Aberacht zurück. Lorchen aber — das gefiederte natürlich — hat seither bereits den achten Besitzer, und dieser achte ist auch schon wieder wegen Erregung öffentlichen Aergernisses unter Anklage gestellt.

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